Geschichte der Sammlung

Jena kann - cum grano salis - als Ursprungsort der deutschen Altorientalistik gelten: Der 1873 - 1875 in Jena wirkende Alttestamentler und Orientalist EBERHARD SCHRADER führte hier FRIEDRICH DELITZSCH in die damals noch junge Disziplin ein. DELITZSCH habilitierte sich 1874 in Leipzig für "Assyriologie" und hatte dort die erste Professur für dieses Fach in Deutschland inne. Einer seiner Schüler war der aus Sachsen-Anhalt (Hohenerxleben bei Bernburg) stammende HERMANN VOLLRATH HILPRECHT (28.7.1859 - 19.3.1925), der Professor in Philadelphia wurde und sich maßgeblich an den Ausgrabungen von Nippur, einer der bedeutendsten Städte des Alten Zweistromlands, beteiligte. In Jena war 1909 - 1919 ARTHUR UNGNAD Professor für Orientalistik und Altorientalistik und erwarb für das Orientalische Seminar Keilschrifttafeln aus dem Kunsthandel. Bei seinem Tode 1925 hinterließ HILPRECHT seine altorientalischen Sammlungen der Universität Jena: seinem letzten Willen gemäß wurde die Sammlung zur Erinnerung an seine erste Frau, die 1902 in Jena verstorben war, "Frau Professor Hilprecht Collection of Babylonian Antiquities" genannt. 1932/33 erhielt die Sammlung Zuwachs aus dem Besitz von HILPRECHTs Schwester NATALIE BIERSTEDT: Teile seines schriftlichen Nachlasses, seine Abrollungen altorientalischer Siegel (auf Gips) sowie 87 islamische Fayence-Fliesen. Auch die von UNGNAD erworbenen Stücke sowie einige Aegyptiaca (darunter zahlreiche Uschebti-Figuren) wurden der Sammlung einverleibt.

Heute umfaßt die Hilprecht-Sammlung - ohne Siegelabrollungen und Repliken - ca. 3300 Objekte: über 3000 Keilschrifttexte fast aller Epochen und Textgattungen aus einem Zeitraum von annähernd 3000 Jahren, über 60 "Zauberschalen", d.h. mit aramäischen Beschwörungen beschiebene Keramikschalen, aus talmudischer Zeit sowie archäologische Kleinfunde (großenteils Terrakotten). Sie ist nach dem Vorderasiatischen Museum in Berlin die umfangreichste Sammlung ihrer Art in Deutschland. Bekanntestes Stück ist der oft abgebildete "Stadtplan von Nippur" aus der Mitte des 2. Jt.s v. Chr., der als ältester Stadtplan der Welt gilt. Von unschätzbarem Wert sind die zahlreichen literarischen und lexikalischen Texte in sumerischer und akkadischer Sprache (größtenteils 21. bis 16. Jh. v. Chr.) - es handelt sich um Zeugnisse der ältesten Literaturwerke, Wörterbücher und Grammatiken der Menschheit. Dazu zählen Manuskripte sumerischer Mythen (z.B. "Inannas Gang zur Unterwelt"), Epen (z.B. Lugalbanda, Gilgamesch) und Beschwörungen, aber auch altbabylonische Abschriften ansonsten verlorener Königsinschriften des 3. Jt.s v. Chr. oder etwa ein Wirtschaftstext des 3. Jt.s mit der vielleicht ältesten keilschriftlichen Jahresdatierung (ca. 2350 v. Chr.).

Zum ersten Leiter der Sammlung wurde 1929 JULIUS LEWY, außerordentlicher Professor an der Universität Gießen, bestellt. Er begründete als Publikationsorgan die Reihe "Texte und Materialien der Frau Professor Hilprecht-Collection" (TMH). Band I (1932) verfaßte er selbst, den Doppelband II/III (1933) OLUF KRÜCKMANN, der damals Privatdozent in Jena war, Band IV (1934) BRUNO MEISSNER (Berlin), Band V (1935) Alfred Pohl (Rom). LEWY wurde 1933 wie viele andere jüdische Professoren seines Amtes enthoben und emigrierte nach Paris und Amerika. Sein Nachfolger wurde KRÜCKMANN (1933 Privatdozent, 1940 außerplanmäßiger Professor). Da LEWY seine Herausgeberschaft nicht niederlegen wollte, initiierten MEISSNER (der mit dem Nationalsozialismus sympathisierte) und KRÜCKMANN eine "Neue Folge" der "Texte und Materialien der Frau Professor Hilprecht-Collection" (TMH NF), von der sie 1937 den Doppelband I/II, verfaßt von ALFRED POHL (PIB Rom), herausbrachten. KRÜCKMANN kehrte nach Kriegsende nicht mehr nach Jena zurück. 1949 wurde die Sammlung einem Gremium unterstellt, dem die Professoren RUDOLF MEYER (Altes Testament), FRIEDRICH ZUCKER (Klassische Philologie) und FERDINAND HESTERMANN (Sprachwissenschaft) angehörten. Letzterer wurde 1951 zum Leiter der Sammlung ernannt und übte dieses Amt bis zu seinem Tod im Jahre 1960 aus. Seit 1951 war auch INEZ BERNHARDT mit der Sammlung befaßt: zunächst als Assistentin, dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin HESTERMANNs, und schließlich als Kustodin. 1958/59 veröffentlichte sie zusammen mit dem finnischen Assyriologen JUSSI ARO die mittelbabylonischen Briefe (WZJ 8, 565-574 + Tf. I-XV), 1961 bzw. 1967 gemeinsam mit dem amerikanischen Sumerologen SAMUEL NOAH KRAMER die Bände TMHNF III und IV, welche die meisten sumerischen literarischen Texte der Sammlung enthalten. 1972 ging BERNHARDT in den Ruhestand, der von ihr damals fertiggestellte Band V der TMH NF mit Handkopien mittelbabylonischer Wirtschaftstexte erschien 1976, eine wissenschaftliche Bearbeitung publizierte HERBERT PETSCHOW 1974 (ASAW 64/4). Die Kustodenstelle wurde nun JOACHIM OELSNER übertragen, der bereits seit 1966 an der Sammlung tätig war. Neben seiner Tätigkeit als Kustos lehrte er Assyriologie in Halle. Er führte die von seinen Vorgängern begonnene Inventarisierung der Sammlung zu Ende, publizierte und bearbeitete Texte in zahlreichen Einzelveröffentlichungen und hatte eine glückliche Hand beim "Joinen" (d.h. Zusammenfügen) von Tafelfragmenten. 1993 wurde er auf die neu gegründete Professur für Altorientalistik berufen, die er bis zu seiner Pensionierung 1997 innehatte.

Nachdem MANFRED KREBERNIK 1998 die Nachfolge OELSNERs angetreten hatte, faßte er den Plan, die Publikation der Sammlung systematisch voranzutreiben und zu diesem Zweck die Reihe TMH wiederzubeleben. 2003 erschien, gefördert durch die Humboldt-Stiftung, Band 6: JOHANNES A. VAN DIJK - MARKHAM GELLER, "Ur III Incantations from the Frau Professor Hilprecht-Collection, Jena". 2005 folgte Band 7: CHRISTA MÜLLER-KESSLER, "Die Zauberschalentexte in der Hilprecht-Sammlung, Jena, und weitere Nippur-Texte anderer Sammlungen"; diese Edition bildete den Abschluß eines DFG-Projekts. Die französische Mathematikhistorikerin CHRISTINE PROUST bereitet derzeit in Zusammenarbeit mit KREBERNIK und OELSNER Band 8 vor, der die mathematischen und metrologischen Texte der Sammlung enthalten wird. In Vorbereitung ist auch Band 9, der eine Edition der sumerischen Königshymne "Schulgi F" enthalten wird, die aus der Magisterarbeit von KAI LÄMMERHIRT hervorgegangen ist; das besterhaltene Manuskript dieser Dichtung (nebst zwei fragmentarischen) befindet sich in der Hilprecht-Sammlung. Die über 300 altbabylonischen Wirtschaftstexte sollen im Rahmen eines weiteren DFG-Projektes ediert werden, das sich gerade in der Antragsphase befindet; vorgesehene Bearbeiterin ist ANNE GODDEERIS (Leuven).

Die archäologischen Objekte sind beim letzten Umzug (Sommer 2002) in neuen, aber unzulänglichen Stahlschränken untergebracht worden, was eine ständige Gefärdung mit sich bringt (Schubladen schlecht gelagert, müssen beim Herausnehmen schräg angehoben werden, Schränke zu hoch, so daß Schubladen sich über Kopfhöhe befinden). Bücher, schriftlicher Nachlaß, Photos etc. mußten aus Platzmangel in einem gänzlich ungeeigneten Keller eingelagert werden (geringe Raumhöhe, hohe Temperatur und Luftfeuchtigkeit, Schimmel).

Die meisten Stücke der Sammlung bedürfen konservatorischer Behandlung, viele sogar dringend. Vor einigen Jahren ließ ich eine Ton(tafel)-Restauratorin, Frai C. Gütschow, aus Berlin kommen, die die ganze Sammlung durchsah. Sie hat 2004 in Hinblick auf das oben erwähnte DFG-Projekt einen Kostenvoranschlag für die 300 altbabylonischen Wirtschaftstexte erstellt, der sich auf Euro 18 750.-- beläuft (Werkvertrag). Um die ganze Sammlung zu behandeln, müßte man für ca. 3 Jahre eine Stelle einrichten und mit den erforderlichen Sachmitteln ausstatten.